Gemeinsam mit Kaospilotin Jara von Lüpke, Oya-Chefredakteurin Lara Mallien, Lehrerin Silke Weiß und Philosoph Bertrand Stern habe ich in einem Artikel in der OYA 19 gemeinsam über den inneren Impuls sich frei zu bilden geschrieben. Meine Impulse dazu war sehr biographisch zu schreiben und einen Einblick in meine eigenen inneren Bildungsprozesse zu erzählen. Hier geht es direkt zu dem Artikel:
„Das Lied von der Bildung“ OYA 19/2013
Grundlage für meinen Beitrag dort war die folgende ausführlichere Textfassung:
Textbeitrag für die OYA 19 von Dominik Werner: Mein Lied der Bildung
Wenn ich in den vergangenen Jahren zurückgeschaut und von meinem Lebens-Lern-Weg erzählt habe, war der Einstieg oft mit einer Geschichte, in der ich so ca. 9 Jahre alt war. Neben vielen vollständigen Momenten des natürlichen Entdeckens meiner Mitwelt im freien Spiel mit unseren Tieren im Hinterhofgarten oder mit Freunden in den noch verbliebenen Hecken zwischen den Feldern eines Mainzer Vortortes, gab es eine prägende Erfahrung, ein Moment der tiefen Irritation und Erkenntnis.
In den späten 80er Jahren flatterten in Tier- und Umweltheften für Kinder endlose Bilder von der allgegenwärtigen Lebenszerstörung in Meeren und Wäldern, Kriegsgebieten und Tschernobyl in die Kinderzimmer. Angesichts dieser Bilder breitete sich eine tiefe Verzweiflung und Wut in mir aus. Der Zusammenhang war schnell klar. Hinter all diesen Zerstörungen standen immer Menschen.
In dem kleinen Kinderkopf entwickelte sich die Idee einer angeblichen Lösung. Bilder von menschenleeren Städten rauschten durch meine Kinderphantasien. Ich dachte daran alle Menschen umzubringen, um den Planeten Erde mit allen nicht-menschlichen Lebewesen zu retten. Die Konsequenzen dieser Idee verwickelten mich in innere Widersprüche. Konnte ich es denn überhaupt, auch nur einen Menschen umzubringen? Und war das eine wirkliche Lösung des Problems? Es beschäftigte mich einige Wochen – aber meine damalige Erkenntnis, dass die Menschen ein Teil dieser lebenden Welt und alle allmächtigen Rettungsvorstellungen vermessen sind, wirkt bis heute nach.
Diese Geschichte war lange Zeit in Vergessenheit geraten, bis sie später als Jugendlicher wieder in mir auftauchte. Meine Schwester erinnerte sich noch an die entsprechenden Gespräche aus unserer Kindheit. Heute sehe ich den Sinn dieser Geschichte mehr denn je. Für mich war es ein Prozess der tiefen inneren Bildung im Dialog mit der Welt. Ein Moment, in dem sich ein junger Mensch wahrnehmen und so ein Bild von sich und der eigenen Beziehung zur Welt machen konnte. Eine innere Auseinandersetzung mit Widerständen, Utopien, Werten, Widersprüchen und Verantwortung. Es scheint rückblickend auch wie eine sinnvolle Vorbereitung für spätere Erfahrungen und Erlebnisse.
Die Fortsetzung meiner bereits geschilderten Kindheitsgeschichte formte sich in meiner Jugend durch eine, weitgehend unbegleitete und absolut ungeplante, initiatorische Erfahrung. 1999, gerade 17 Jahre alt, bildete ich mir ein an Krebs erkrankt zu sein. Aufgrund der ersten Angst vor einer eventuellen Bestätigung der Selbst-Diagnose schob ich einen Arztbesuch in die (ferne) Zukunft, aus Tagen wurden Wochen, Monate und Jahre. Ich lebte in zwei Welten. Hier ein lebenslustiger junger Mann, der sich wie nebenbei durch Schule, Zivildienst, Reisen und den Studienbeginn in Marburg bewegte. Und in der Stille des Schweigens waren Angst, Verzweiflung, Verdrängung und Wut über meinen und unseren krebserregenden Konsum- und Lebensstil. Ich lebte in selbstgemachter Isolation in einer Situation, die mich zugleich in tiefen Erkenntnisprozessen erfüllte. Denn ich konnte sie auch als Metapher oder Spiegelbild einer größeren, weit über mich hinausgehenden, Geschichte wahrnehmen. In tiefem Vertrauen fühlte ich mich eingebettet und verbunden mit dem sozio-öko-kulturellem Kontext, in dem ich mich seit meiner Kindheit bewusst bewegte.
Eine solche sechs Jahre andauernde Erfahrung in wenigen Worten zu schildern ist unmöglich. Um es kurz zu machen: Nach einem intensiven Meditationsretreat in einem buddhistischen Tempel in Nordthailand eröffnete mir im Januar 2006 dort ein chinesischer Arzt, was später ein Schulmediziner bestätigte: Ich hatte gar keinen Krebs. Eine ebenso intensive Reise zurück in mein Leben begann…
Warum ich diese Geschichte hier erzähle? Ich weiß, dass ich in dieser Zeit wohl mehr über mich, uns Menschen und die Welt gelernt habe, als es in jedem geplanten Bildungsprogramm jemals möglich wäre. Und wirklich aufregend und spannend wurde es, als sich die innere Erfahrung und äußere Bildungs-Programm-Angebote gegenseitig verstärkten und miteinander verwebten.
Zum Beispiel, als wir in der 11. Klasse (im ersten Jahr dieser Geschichte!) die Club of Rome Studie „Die neuen Grenzen des Wachstums“ gleichzeitig im Mathe- und Politikunterricht durchgenommen haben. Ich war fasziniert wie sich der Wahnsinn der industriellen Wachstumsgesellschaft und das Bild des vermeindlich wuchernden und bis zum befürchteten Tod endlos wachsenden Krebs miteinander verknüpften.
Oder auch, als mir später an der Uni Marburg im Studienprojekt „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BnE) in den grundlegenden Vorlesungen und Seminaren zur Mensch-Natur Beziehung von PD Dr. Hartmut Bölts wieder ein Spiegel meiner eigenen Situation angeboten wurde. Hartmut Bölts sprach zum Beispiel von der Korrespondenzthese, über die wechselseitigen Beziehungen zwischen den äußeren und inneren ökologischen Krisen des Menschen. Ich wusste aus eigener Erfahrung was er meinte und saß, innerlich weinend, in den fensterlosen Räumen des Hörsaalgebäudes.
Im weiteren Studium, auch nach der Thailandreise, bewegte ich mich ständig im Spannungsfeld zwischen Kritik und Zweifel an dem universitären Programm und der kreativen Selbst-Gestaltung meines Studiums, um mich frei bilden zu können. Von dem projektartig strukturierten BnE Studienprojekt, über die Konzeption und Organisiation der daraus entstandenen ersten Marburger Bildungsfeste bis hin zu selbstorganisierten und dennoch anerkannten Uni-Seminaren zum Theater der Unterdrückten – immer wieder hatten die Momente am meisten Bedeutung, in denen ich kein vorgegebenes und wohl strukturiertes Lernhäppchen zur Verfügung hatte. Wenn nicht nur Inhalt, sondern auch die Form des Lernens eine gemeinsame Frage war, entstanden die bildenden Momente, die bis heute für mich prägend sind.
Dennoch begleitete mich ständig der Wunsch das Studium abzubrechen. Mal wollte ich zu den KaosPiloten in Dänemark, dann zur GAIA-University, eine Permakulturausbildung oder einfach nur reisen und keinerlei offizielle Ausbildung oder Studium machen.
Warum ich doch an der Uni geblieben bin? Heute sehe ich eine Mischung aus fehlendem Mut zur Entscheidung, soziale und familiäre Erwartungen, die bereits beschriebenen Möglichkeiten der eigenen Gestaltung an der Uni und auch der Wunsch mich nicht von einem Bildungs-Programm abzumelden, nur um mich dann beim nächsten wieder anzumelden.
Vor dem Hintergrund meiner eigenen Lebens-Lern-Wege verstehe ich Bildung als einen Dialog und Spannungsfeld zwischen möglichen Programmen und dem Leben. Diese können gegenseitige Spiegel und Ergänzungen darstellen. Dafür müssen wir aber anerkennen, dass sich bilden in den Zwischenräumen, im Un(ge)wissen, im Spontanen, im Leben stattfindet. Leben und Lernen entsteht zwischen Chaos und Ordnung – nicht aber in der heute allgegenwärtigen Kontrolle. Großartige Programme können ihre Impulse und Inspirationen in diesen unplanbaren Lebensprozess geben – aber eher begleitend, verbindend und als bewusste Raum und Zeit für jene Bildungsprozesse, die gerade im Leben stattfinden. Dass sich die Lernkultur radikal wandelt, steht außer Frage. Die (R)Evolution ist in vollem Gang, wir müssen ihr lediglich Platz machen und Raum geben.
Als Pädagoge frage ich mich daher immer wieder, wie ich ganz bewusst zur Seite treten kann, um eher als Gastgeber in einen chaordischen Raum für Lernprozessen einzuladen? Ich frage mich aber auch was kann und möchte ich weitergeben? Vor dem Hintergrund meiner bisher geschilderten Geschichte verbinde ich diese Frage untrennbar mit der Frage, welche Überlieferungen und Traditionen die letzten Generationen einer Pre-Kollaps Gesellschaft im Übergang zur Post-Kollaps-Gesellschaft weitergeben wollen und können?
Während des Schreibens für diesen Text tauchte immer wieder die Frage auf, warum ich diese eigene Krebsgeschichte in die OYA bringen will. Bislang hatte ich die Geschichte nur mündlich erzählt. Dieser schriftliche Beitrag in einer Zeitschrift ist aber ein anderer Schritt um mit dieser Geschichte in die Welt zu gehen.
So, wie ich nach langen Jahren das Schweigen um meinen vermeintlichen Krebs gebrochen habe, brechen auch wir Menschen gemeinsam mehr und mehr das Schweigen über unser krebserregendes Weltbild und den entsprechenden Lebensstil.
Jene „Kultur des Schweigens“ (Paulo Freire) in eine Kultur des Dialogs zu verwandeln verstehe ich als wesentlichen Kern meiner beruflichen Tätigkeit. Meine „zauberhaften Melodien“ bestehen darin, leere Räume zur Entfaltung und Transformation zu schaffen. Räume in denen wir Menschen uns angesichts des inneren und äußeren Wandels spielerisch begegnen und unsere mündlichen Erzählungen über uns selbst, die Anderen und die Welt wieder lebendig werden lassen können.
Eine der kraftvollsten Wege, in solche Räume einzuladen, habe ich von dem exil-kolumbianischen Theateraktivisten Hector Aristizabal gelernt, der mit seinem Solostück »Nightwind« über seine Folterung durch kolumbianische Militärs um die Welt reist. In Kriegs- und Krisengebieten arbeitet er mit seiner speziellen Anwendungsweise des „Theaters der Unterdrückten“. Seit ich Hector 2009 kennengelernt habe, keimt im mir das Bild eines entsprechenden (Solo-)Theaterstück über meine eigene Geschichte als Spiegelbild unserer größeren Geschichte. Ich träume von einem Theaterstück, in dem ich die wesentlichen Elemente und Stationen meines Weges so erzähle, dass Menschen dadurch eingeladen sind, sich mit ihren eigenen Geschichten des großen Wandels in einem theatralen Dialog zu begegnen. Ein Stück in das ich meine Erkenntnisse über die Beziehungen von Mensch-Natur-Gesellschaft sowie Frieden-Ökologie-Gesundheit in einer Art und Weise darstelle die Menschen fragt und einlädt, irritiert und inspiriert. Das ist es, was ich heute weitergeben kann und will!
Dominik Werner (30) ist Vater und freiberuflicher Pädagoge. Er studierte Bildung für nachhaltige Entwicklung, Friedens- und Konfliktforschung und Theaterpädagogik. Heute widmet er seine Arbeit den Qualitäten von Gesundheit, Ökologie und Frieden.
www.dominikwerner.net